Als wir als Schüler im ausklingenden Analogzeitalter vor vielen, vielen Jahren zum ersten Mal den Computersaal unserer Schule betraten war die Enttäuschung groß: Mit dem Schulfach „Elektronische Datenverarbeitung“ (im Stundenplan kurz EDV genannt) sollte unsere größte Stunde kommen. Schließlich konnten wir uns selbst mit Fug und Recht als wahre Pioniere dieses Gebiets betrachten. Wir brachten in Eigenregie Programme auf unseren Rechnern zuhause zum Laufen, kannten den Unterschied zwischen Soft- und Hardware und konnten verstehen wieso, weshalb und warum fremde Begriffe wie Kompatibilität und Kilobyte eine so maßgebliche Rolle spielen konnten. Wir wussten aber auch instinktiv: Computer machen Kunst und Kunst kommt von Können und Kommunikation. Im Kunstunterricht lernten wir, dass sie in der Lage war das Unmögliche möglich zu machen. Unsere Heimcomputer lieferten den Beweis für diese Theorie. Uns trennte eigentlich nur noch die Anschaffung eines Akustikkopplers von unseren wohlverdienten 15 Minuten Ruhm, die wir in unserer Fantasie mit der endgültigen Eroberung der Erwachsenenwelt gleichsetzten.
Günther P., seineszeichens Deutsch-, Musik- und (jetzt neu!) EDV-Lehrer wusste von alledem nur sehr wenig. Warum wir zuhause stundenlang dem Rauschen der Soundchips lauschten und an welche Orte wir uns in den langen Ladezeiten träumten konnte er nicht einmal ahnen. Er wunderte sich höchstens, warum die Diskette mit der Aufschrift „bootfähig“ auf keinem der aufgestellten Bürorechner im Saal so laden wollte wie sie sollte … ein Drama zwischen Mensch und Maschine
Jahrzehnte später zeigt eine lebendige Retro-Szene, dass in den Bits und Bytes dieser alten Rechner wirklich die geheimnisvollen Welten liegen, von derern Erforschung wir damals geträumt haben. Die Autoren, die Stefan Höltgen in dem vorliegenden Buch 'SHIFT – RESTORE – ESC' um sich versammelt hat, sind gekommen um zu beweisen, dass die Fantasten und Träumer in den kühlen EDV-Räumen von damals Recht hatten. Sie präsentieren ihre Projekte und fliegen dabei wie Marvels Silver Surfer durch die unendlichen Weiten der Computerwelt, berichten von der „Geburt des Cyberspace aus dem Geist des Homecomputing“, erklären die „Geschichte, Theorie und kulturelles Erbe der analogen Klangerzeugung mit Digitalcomputern“ und erforschen „Die Emulation klassischer Computer“.
Zu den Autoren um Herausgeber (und 'Retro'-Chefredakteur) Stefan Höltgen gehören duzende sachverständige Menschen wie Sebastian Felzmann der „Mediennostalgie als kreative Praxis zur Schaffung neuer retroider Spiele“ vorstellt oder 'Extraleben'-Kult-Autor Constantin Gillies, der anhand seines Beitrages Einblicke in die Hardware-Theorien seiner Romane gibt. Kurzbiografien und ein hilfreicher Index runden 'Shift – Restore -ESC' ab.
Das über 300 Seiten starke Buch ermöglicht ein Eintauchen in die Welt des Retrocomputings, wie es nur wenige deutsche Veröffentlichungen im Stande sind. Es eignet sich ideal als weiterführende Lektüre zu den Klassikern 'Wir waren Space Invaders' und 'Ladezeit' aus dem blumenkamp-Verlag und untersteicht den Anspruch von Enno Coners CSW-Verlag, der digitalen Kultur ein Zuhause zu bieten.